In der Region kommen nahezu stündlich Menschen aus der Ukraine an. Es sind vor allem Privatinitiativen, die sich organsiert haben, um den Frauen, Kindern und Männern ein neues Zuhause zu geben. Hinter den Initiativen stecken hunderte Freiwillige. Sie solidarisieren sich. Das Netzwerk aus der Region reicht bis an die ukrainische Grenze. Glück im Unglück hatte Inna Shavlai. 

Wir trafen sie am Donnerstag, sprachen mit der 52-Jährigen, die am vorigen Wochenende in der Gemeinde Cremlingen im Ortsteil Hemkenrode untergekommen ist. Shavlai spricht Ukrainisch und Russisch. Wir unterhielten uns mit ihr mithilfe der Dolmetscherin Viktoria Rochel aus Königslutter, die per Telefon zugeschaltet war. Rochels Eltern wohnen in Schandelah und sprechen auch Ukrainisch. 

Familie Engelkes aus Hemkenrode stellte ihr ein Zimmer zur Verfügung. „Wir verständigen uns bisher mithilfe des Google-Translators, ein bisschen auf Englisch oder mit Händen und Füßen“, sagte Kristin Engelkes. Dass bisher nahezu alles reibungslos und unkompliziert abgelaufen ist, ist Jörg Wasmus zu verdanken. Er ist der Initiator von „friendship-ukraine.eu“. Doch dazu später mehr. 

Shavlai kommt aus der Nähe von Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine. Laut Wikipedia wohnen dort etwa eine Million Menschen. „Dnipro liegt relativ zentral in dem Land“, sagte sie. Durch Dnipro fließt der Fluss Dnepr, der drittlängste in Europa. Sie sprach von 30.000 Einwohnern.  

Die Frau reiste alleine. Ihre Mutter, ihr Bruder und ihr Sohn fuhren nicht mit. „Sie blieben in der Ukraine“, übersetzte die Dolmetscherin. Der Sohn ist 27 Jahre alt und durfte das Land nicht verlassen. Ihre 75-jährige Mutter sei erkrankt, konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht mit, weshalb der Bruder auf sie aufpasst. Mit ihrer Familie stehe sie im Kontakt. Die 52-Jährige hat in der Ukraine Möbel designt. Sie ist künstlerisch begabt, machte ihren Beruf gern. Ihr Sohn sei auch begabt. Er studierte etwas mit IT an einer Universität und sei dort angestellt. 

Als der Krieg Ende Februar begann, waren zuerst die Soldaten gefordert, danach wurden Reservisten gerufen. Die dritte Abfrage sei laut ihr an Freiwillige gegangen. Ihr Sohn habe sich auf dieser Liste eingetragen und muss nun die Stadt nachts bewachen. „Sie haben feste Posten, müssen Kleidung und Nahrung zu den Soldaten bringen“, erzählte Shavlai. Freiwillige bauen Zäune, füllen Sandsäcke, bauen Gräben, schweißen Eisenstangen zusammen, damit das russische Militär beim Vorrücken aufgehalten wird.  Auch die Ukrainerin habe anfänglich geholfen. „Ich war in der Küche und habe Tarnnetze genäht“, schilderte sie eindrucksvoll. Man sah ihr die Traurigkeit an, doch erzählte sie gerne ihre Geschichte, damit die Menschen hierzulande von den Umständen erfahren. 

Shavlai berichtete, dass die Ukraine vor Kriegsbeginn im Aufwind war. Präsident Selenskyj habe den Bürgern 1.000 Griwna (rund 30 Euro) überwiesen. Es war ein Anreiz, damit sich die Menschen gegen Corona impfen lassen und das Geld für Freizeitaktivitäten ausgeben, um das Land nach dem Lockdown wieder anzukurbeln. „Es war ein Bonus“, sagte sie. Doch statt das Geld für Kino, Museum und Co. auszugeben, hätten sie es jetzt der Bundeswehr gegeben, um die Soldaten und Ausrüstung zu stärken. Sie selbst sei schon zweimal mit AstraZeneca geimpft.  

Schließlich beschrieb sie die Situation in ihrer Stadt. „Zwei bis dreimal am Tag liefen die Sirenen.“ Es war der Flugalarm – Raketenwarnung. Shavlai gab an, dass die Abwehrsysteme die Raketen frühzeitig abgeschossen haben. Als sie ihre Heimat verließ, seien noch keine Wohngebäude zerstört worden. Allerdings sei der nahegelegene Flughafen angegriffen worden. 

Dnipro verließ sie mit der Bahn. „Das waren 15 Stunden bis zur nächstgrößeren Stadt“, übersetzte die Dolmetscherin. Sie fuhr in Richtung Lwiw und von dort aus weiter in Richtung Polen. Sie sprach auch von dem ukrainischen Ort „Schehyni“ und dem polnischen Ort „Medyka“. Neun Stunden hatte sie Aufenthalt an der polnischen Grenze. „Ich habe viele Menschen gesehen. Frauen mit Kindern. Sehr, sehr wenige Männer und wenn nur Männer über 60 Jahren“, erinnerte sie sich.

Shavlai meinte viel Glück gehabt zu haben. An die Grenze reisten Deutsche aus unserer Region, um zu helfen. Sie lernte Helfer kennen, die ihr Essen, Trinken und eine Übernachtung ermöglichten. Die 52-Jährige nahm nur das nötigste in einer kleinen Reisetasche mit. Ein Ausweis, das Handy und ein Ladekabel zählten dazu. Die Ukrainerin hielt sich an die Deutschen. „Sie gaben mir Infos und Hilfe.“

An der Grenze war ein Team aus Vechelde, so Katharina Beuchel. Sie ist die Tochter vom eingangs erwähnten Initiator Jörg Wasmus, der aus Cremlingen kommt. Durch ihr Netzwerk entstand die Verbindung nach Vechelde. Eine Helferin sei Polizistin und für ihre Tätigkeit freigestellt worden. Da die Polizistin nebenbei noch ein Kleinbusunternehmen führe, standen fünf Sprinter bereit, mit denen nach und nach geflüchtete Menschen in unsere Region gebracht werden. 

Im ersten Tross seien fünf Personen (zwei Mütter und drei Kinder) in einer Ferienwohnung im Harz untergekommen. „Im zweiten Tross brachten wir 25 nach Vechelde, Goslar, Hemkenrode, Hötzum, Cremlingen und Sickte“, so Beuchel. Ihr Vater telefoniere nahezu ununterbrochen, um Möglichkeiten auszuloten. Die Homepage „warmes-bett.de“ werde mit Infos gefüttert, um kurzfristige Lösungen zu finden. „Kinder, Haustiere, Behinderungen, Medikamente, Allergien … die Infos sind wichtig“, sagte Beuchel, die in einer Flohmarkt- WhatsApp-Gruppe nach Unterkünften fragte. Und schon kam der Kontakt zur Hemkenroderin Engelkes zustande, die ihr Homeoffice-Büro kurzerhand räumte. 

Herausfordernd, so Beuchel und Engelkes weiter, seien die Behördengänge. Sie versuchten bereits eine Registrierung vorzunehmen, doch scheitere es bislang an der Bürokratie. Beuchel betonte: „Alles, was wir bislang auf die Beine gestellt haben, sind reine Privatinitiativen.“ Laut ihr stehen 50 freie Betten in der Region zu Verfügung, die Wasmus auch dem Landkreis Wolfenbüttel meldete, sodass Massenunterkünfte nicht immer notwendig seien.  

Dank der Dolmetscherin konnte Shavlai ihre Dankbarkeit äußern: „Ich wurde herzlich aufgenommen und es entwickelt sich eine Freundschaft. Es ist eine sehr herzliche Familie“, sagte die Ukrainerin. Sie fügte hinzu, dass sie zunächst etwas Ruhe brauche, jedoch sehr froh sei, hier in Deutschland zu sein. „Ich möchte mich einbringen und Deutsch lernen“, legte sie nach. Sie wolle der Familie wieder etwas zurückgeben und schon bald eine Tätigkeit aufnehmen. Ihr innigster Wunsch war, dass der Krieg endet. 

Am kommenden Sonntag, 27. März, soll in Destedt um 10.30 Uhr ein Gottesdienst für Geflüchtete und Helfer stattfinden. Pfarrer Thomas Posten plant ein Friedensgebet. Zudem sollen sich bei dem Termin die Menschen mit-
einander weiter vernetzen. 

Spendenkonto: Pfarrverband Destedt, IBAN: DE71 2709 2555 4106 0865 00, Verwendungszweck: „Friendship Ukraine 38162“.