Was sind eigentlich Systemsprenger? Seit dem gleichnamigen Kinofilm (2019) hat man vielleicht eine vage Vorstellung von diesen Jugendlichen. Doch im eigenen Bekanntenkreis finden sie sich eher nicht. „Ich spreche lieber von System-Herausforderern“, sagt Hendrik Ruppert. Er ist als Mitarbeiter der Arbeiterwohlfahrt (AWO) auserkoren, Einrichtungsleiter eines hochinteressanten Projekts zu werden, für das am Freitag der Startschuss an der Ostfalia-Hochschule fiel.
Um es klar zu sagen: Systemsprenger sind ein Personenkreis, an den die Mitarbeiter der Jugendhilfe denkbar schlecht herankommen. Ruppert schildert es so: „Das sind riskant agierende Jugendliche, die in der Vergangenheit so vielen Widrigkeiten ausgesetzt waren, dass sie niemandem mehr trauen – außer sich selbst.“ Gewalterfahrungen können da natürlich eine Rolle spielen, auch Drogeneinflüsse in der Familie oder an sich selbst. „Oft sind sie obdachlos, was eine regelmäßige Kontaktaufnahme noch zusätzlich erschwert.“
Doch seit Freitag gibt es eine gemeinsame Anstrengung vieler, die sich so ohne Weiteres wohl nur selten zusammenfinden: Unter Federführung der Ostfalia (Fakultät Soziale Arbeit) sowie des AWO-Bezirksverbandes Braunschweig wurde eine Forschungskooperation angestoßen, die es in Deutschland noch nicht gegeben hat: Fünf Landkreise (Helmstedt, Salzgitter, Goslar, Hildesheim, Wolfenbüttel) stehen hinter der Idee, gefördert wird die ungewöhnliche Maßnahme durch die Stiftung Braunschweiger Kulturbesitz sowie die Kroschke-Kinderstiftung, unterstützt auch durch das Landes-Jugendamt Hannover.
Diese breite Basis ist nicht das einzig Ungewöhnliche. Auch die Verquickung von Theorie und Praxis sucht ihresgleichen. Der praktische Teil soll sich in Goslar abspielen: „Wir haben eine Immobilie gefunden, die derzeit umgebaut wird“, berichtet Ruppert. Fünf Jugendliche (aus jedem Landkreis einer) zwischen 13 und 17 Jahren finden dort Platz in einer Wohngruppe, außerdem eine diensthabende Person. „Wir sind gerade auf der Personalsuche und müssen damit einen Rund-um-die Uhr-Dienst an sieben Tagen die Woche abdecken.“
Denn wie gesagt: Die Klientel ist knifflig. „Unserer Erfahrung nach werden viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen abgängig – sie kommen also erstmal her, fahren dann aber wieder zurück in ihren alten Freundeskreis.“ Im Gegensatz zu bisherigen Betreuungen werden die Jugendlichen aber nicht zurückgebracht, schon gar nicht durch Zwang. „Ja, wir laufen ihnen nach, erinnern sie aber nur daran, dass sie in Goslar eine feste Anlaufstelle haben.“ Bei diesen Kontaktaufnahmen arbeitet die Gruppe Ruppert mit freien Trägern in den fünf Landkreisen zusammen. „In anderen Projekten hat es mit dieser Art des Umgangs schon erste Erfolge gegeben.“
Nach einem Jahr Vorbereitung ist das Projekt mit dem Namen „Dynamite“ nun für drei Jahre gesichert. „Das bezieht sich auf das Forschungsprojekt mit der Ostfalia“, erläutert der Einrichtungsleiter. „Die Wohngruppe wird danach sicher weiterlaufen.“ Den explosiven Namen griff in ihrer Begrüßung auch Prof. Dr. Rosemarie Karger auf, die Ostfalia-Präsidentin. Es handele sich durchaus auch um explosives Thema: „Wir wollen jungen Menschen, die schon viel Schlimmes erlebt haben, dabei helfen, noch die Kurve zu kriegen bis zum Erwachsensein.“ Die Ostfalia sei stolz auf ihren Ruf als kreative Hochschule. „Und die kreativsten Lösungsansätze für aktuelle, gesellschaftliche Probleme entwickelt ganz sicher unsere Fakultät Soziale Arbeit.“
Für den AWO-Bezirksverband lobte Rifat Fersahoglu-Weber (Vorstandsvorsitzender) die ungewöhnliche Kooperation: „Hier an der Ostfalia wurde der Praxisbezug schon immer gelebt, auch als ich hier noch studiert habe.“ Und er warb unter den anwesenden rund 40 Studierenden gleich mal für Kontakte zur AWO: „Wir sollten unsere Zusammenarbeit verstetigen und strategischer gestalten.“
Tatsächlich ist es eine weitere Facette des Projekts, den Studierenden Möglichkeiten für praktische Erfahrungen anzubieten. „Wir planen ein Anerkennungsjahr, das sich hälftig in der Wohngruppe und in der Auswertung unserer Ergebnisse an der Ostfalia abspielen soll“, erklärten die Projektleiter Nils Borkowski (AWO) und Dr. Timo Schreiner (Ostfalia-Professor für Kinder- und Jugendhilfe). Denn neben der eigentlichen Hilfestellung für die fünf Teilnehmenden ist das ein wichtiger wissenschaftlicher Hintergrund des Forschungsprojekts: Herausfinden, wie die Systemsprenger ticken, was sie umtreibt und wie man sie zurückholen kann in die Gesellschaft.
„Wir haben in der Vorbereitungsphase nicht nur gesehen, dass es da einen großen Bedarf gibt“, schilderte Timo Schreiner. „Das Projekt ist vielmehr inzwischen auch zu einer Herzensangelegenheit für uns alle geworden.“